Samstag, 18. Februar 2012

HamletMaschine

Dem Ganzen sei eine wunderbare Erkenntnis von Antonin Artaud vorangestellt:
"Um mich von dem Urteil der Anderen zu befreien, habe ich den ganzen Abstand, der mich von mir selbst trennt."

Selbst-Distanz.

Ein Beispiel dazu: "In einem wirklichen Gespräch nimmt ein Mensch durch die Nähe zum anderen Menschen, Abstand vom persönlichen Selbst. Ansonsten ist ein "Gespräch" ein Monolog mit Zuhörern". Abgehört von: Ali Benmakhlouf 

Heiner Müller wurde auch von Antonin Artaud und dessen Theaterexperimenten und Texten inspiriert, gerade auch für dieses Stück.

Versuch einer Text-/Stück-Auslegung.
Die "HamletMaschine", von Heiner Müller.
.
Heiner Müller, 1929 - 1995
.
Angeregt von Shakespears Hamlet, dem Zauderer und Frager, der nur im Wahnsinn dem traditionellen Verlangen nach Blutrache nachgeben kann, obwohl fast alles in ihm nach Frieden und Weite schreit; -nach Überwindung der Zwänge und Unausweichlichkeiten -; aber eben auch die Wut über den Vatermord ist da und das Verlangen zu bestrafen, neben dem Sehnen nach Veränderung der gegebenen Verhältnisse.

Sein oder Nicht-Sein, folge den rauschhaften Gelüsten und traditionellen Zwängen nach Rache, oder überwinde die Vergangenheit und das alte Handeln, und gehe fort mit der Liebsten ...; aber Nein, er muss, er kann nicht, er muss, muss dem Hass folgen, der aus der verweigerten Trauer spriesst, der aus der Lüge und der Intrige herausquillt, er muss und das kann der Vernunft und der Friedfertigkeit nur schaden, löscht sie in einem inneren Kampf mit den Trieben und einem äusseren Verlangen der Ehre aus. Das Rasen bricht sich Bahn über alles Zögern und Denken hinwegg.

Von dieser Vorlage inspiriert, und von den persönlichen Erfahrungen, Erkenntnissen, der Geschichte und dem aktuellen Geschehen (<=1977) in Schwingungen versetzt, entsteht ein grollender, gellender, bellender Schreibstrom, der links und rechts und oben und unten mitreisst, was in und um einen herum stört, nervt, aber auch glänzt, nach Aufmerksamkeit und Bemerksamkeit schreit, was verstopft ist und was fast schon davonfliegt, Halt!, hiergeblieben, und Hau ab!, verzieh dich, ein Gewaltakt und ein Befriedungsversuch der Sprache. Wut, Wissen und Verzweiflung in die MitMenschen hinein geschrien und geflucht, weil dieser Eine - Heiner Müller - begreifft, dass Er auf Allen Seiten steht, dass Er alle Richtungen versteht, dass Er alle Regungen und Erregungen auch ist: Die Unterdrücker, wie die Aufbegehrenden; und dass Sie, die MitMenschen, so wenig aus dem jeweiligen Selbst machen, dass Sie so gefühls- und denk-passiv an der Selbst-Aufgabe, an der Selbst-Unterwerfung mitarbeiten, dass Sie den vorgefundenen Verhältnissen so denk-träge hingegeben sind, dass die Politik, also die Ausgestaltung und Organisation der Gesellschaft fast immer den "Anderen / Oberen" überlassen wird und ...
Es sind immer die Anderen; doch: Was / Wo sind Die?

Ein Auszug,

aus: '4 Pest in Buda/Schlacht um Grönland' «... Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber. Ich stehe im  Schweißgeruch der Menge und werfe Steine auf Polizisten Soldaten Panzer Panzerglas. Ich blicke durch die Flügeltür aus Panzerglas auf die andrängende Menge und rieche meinen Angstschweiß. Ich schüttle, von Brechreiz gewürgt, meine Faust in der andrängenden Menge gegen mich, der hinter dem Panzerglas steht. Ich sehe, geschüttelt von Furcht und Verachtung, in der andrängenden Menge mich, Schaum vor dem Mund, meine Faust gegen mich schütteln. Ich hänge mein uniformiertes Fleisch an den Füßen auf. Ich bin der Soldat im Panzerturm, mein Kopf ist leer unter dem Helm, der erstickte Schrei unter den Ketten. Ich bin die Schreibmaschine. Ich knüpfe die Schlinge, wenn die Rädelsführer aufgehängt werden, ziehe den Schemel weg, breche mein Genick. Ich bin mein Gefangener. Ich füttere mit meinen Daten die Computer. Meine Rollen sind Speichel und Spucknapf Messer und Wunde Zahn und Gurgel Hals und Strick. Ich bin die Datenbank. Blutend in der Menge. Aufatmend hinter der Flügeltür. Wortschleim absondernd in meiner schalldichten Sprechblase über die Schlacht. Mein Drama hat nicht stattgefunden. Das Textbuch ist verlorengegangen. Die Schauspieler haben ihre Gesichter an den Nagel in der Garderobe gehängt. In seinem Kasten verfault der Souffleur. Die ausgestopften Pestleichen im Zuschauerraum bewegen keine Hand.
Ich gehe nach Hause und schlage die Zeit tot, Einig / Mit meinem ungeteilten Selbst.
...
Ich will nicht mehr essen trinken atmen eine Frau lieben einen Mann ein Kind ein Tier. Ich will nicht mehr sterben. Ich will nicht mehr töten.
Zerreißung der Fotografie des Autors.
Ich breche mein versiegeltes Fleisch auf. Ich will in meinen Adern wohnen, im Mark meiner Knochen, im Labyrinth meines Schädels. Ich ziehe mich zurück in meine Eingeweide. Ich nehme Platz in meiner Scheiße, meinem Blut. Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich wohnen kann in meiner Scheiße. Irgendwo werden Leiber geöffnet, damit ich alleinsein kann mit meinem Blut. Meine Gedanken sind Wunden in meinem Gehirn. Mein Gehirn ist eine Narbe.
Ich will eine Maschine sein. Arme zu greifen Beine zu gehn kein Schmerz kein Gedanke. ...»
Ende Auszug.

Da versammelt ein Mensch - Heiner Müller - alle Erfahrungen, alles gesammelte Wissen um das Selbst-Sein, das Anders-Sein, um Verletzlichkeit, aber auch Raserei, um Hingabe in und mit den Anderen, aber ebenso auch um die Ignoranz, die Abscheu und Abschottung von der umgebenden Welt und rotzt es aufs Papier in einem Gewaltakt der Selbst-Befreiung! Keine Einzelfälle mehr, keine Sonderthemen, kein Herauspicken eines Umstands, eines Gefühls, einer Haltung, sondern ein RundUmSchlag, ein angewidertes Austeilen an den Adressaten Heiner Müller genauso, wie an Alle, die ihm darin folgen können, folgen wollen, die verstehen oder auch nicht, Egal!

Grossartig!!!

Ein menschlicher Vulkanausbruch, dickflüssige Lava rutsch den Hang hinab, nimmt Alles mit was drinnen ist und begräbt beim dahinfliessen Alles, was so da ist. Was drinn ist, muss irgendwann mal raus, sonst frisst es den BeInhaltenden auf. Heiner Müller war sowieso noch schonend mit Uns, sonst wäre Er nicht viel zu früh verstorben, aber es hat trotzdem gut getan.


Hier noch eine kurze und dichte, zusammenfassende Beschreibung der Wurzeln von Hamlet und Hamlet-Maschine:

Aus Süddeutsche Zeitung, vom 15.02.2012, Auszüge aus einer Rezension über ein Buch von Wolfram Ette, von Michael Fischer.
Titel: Die mythische Welt ist nichts als Dekoration ...

«Die "Orestie" des Aischylos, die einzig vollständig überlieferte Tragödien-Trilogie des griechischen Theaters, erzählt die Geschichte der Ermordung des aus dem Trojanischen Krieg heimkehrenden Königs Agamemnon durch seine Frau Klytaimnestra und deren Geliebten Aigisthos, sowie von der blutigen Rache, die Orest an den Mördern seines Vaters nimmt.
Orest wird daraufhin von den Fluch- und Rachegöttinnen, den Erinnyen verfolgt, bis Athene zwischen den Verfolgten und die Verfolgerinnen tritt und Orest am Ende in einer Gerichtsverhandlung freigesprochen wird.
Die Aischyloische Trilogie dokumentiert die Ablösung des archaischen Rechts der Blutrache durch das Prinzip eines gesetzlich geregelten Gerichtsverfahrens. Die traditionelle Schicksalsvorstellung eines transzendent verfügten Verlaufs, gegen den kein Protest möglich ist, wird dabei von Aischylos durch ein neues theologisches Konzept ersetzt, in dem der Mensch als gesellschaftliches Subjekt für seine eigene Geschichte verantwortlich gemacht wird.
...
Auch wenn die Hauptquelle von Shakespears "Hamlet" auf die altnordische Sage "Amleth" zurückgeht, kann das Stück aufgrund der übereinstimmenden Handlungsmotive (Vater[Königs-]mord durch die Ehefrau und deren Geliebten und die Rache des Sohnes), als eine neuzeitliche Bearbeitung des Orestie-Stoffes verstanden werden. Hinzu kommt die Ähnlichkeit der beiden Protagonisten Hamlet und Orest, insbesondere der Beiden gemeinsame Charakterzug des Zögerns.
Hamlet geht mit dem fortwährenden Aufschub des verlangten Rachewerks zunehmend auf Distanz zu sich selbst. Durch sein Zaudern verzögert er die tragische Handlung und eröffnet dadurch einen Spielraum für die Gedanken des Publikums.
Shakespears Theater zeige, so W. Ette, dass die Kunst kein Handeln vorschreiben kann. Sie kann aber Konflikte zutage fördern und einen Freiraum erzeugen, in dem sie artikuliert und durchgespielt werden.«

Ende Auszüge aus der SZ

Schlussbemerkungen:

Was macht des Menschen Grösse aus und was hemmt Uns, was zieht Uns darum auch zur Maschine?
Die Einfachheit, die Widerspruchslosigkeit, die (St[r]ahl-)Kraft, die pure Eingeschränktheit auf eine Aufgabe, - inzwischen auch mehrere -, das Ein- und Ausstellen auf Knopfdruck, - inzwischen Einiges (Internet, E-Werke, Notfall-Maschinen, ...) auch nicht mehr -, die beeindruckende Winzigkeit oder Riesigkeit, die Schmerzlosigkeit und fürchterliche Gewalttätigkeit der Waffen, die bedingungslose Effektivität; all das und mehr hätten Wir auch gerne in und für Uns, sind es aber nun mal nicht und das macht eben Unsere Grösse und Verschiedenheit und Widerständigkeit und Spürbarkeit und Verwirrtheit und Schöpfungsfertigkeit aus, -> und das ist alles garantiert keine Schwäche. Wird aber im Angesicht der Technik von Vielen so empfunden. Einfacheit und Berechenbarkeit ist Denen Trumpf, die Uneinsichtigkeit und Sprunghaftigkeit der Lebendigkeit sind Denen ein Graus, sie möchten Maschine sein.

Eine Gruppe namens -->Kraftwerk<-- versucht sich schon seit den 1970ern an der Musik für diese neue Spezies oder einer Kombination aus Schöpfes und Geschöpftem, mit anderem in dem Album "Die Mensch-Maschine" veröffentlicht 1978. Entstanden also im selben Jahr, wie die HamletMaschine!

Oder sie möchten in / mit der Maschine aufgehen / verschmelzen, Cybernauten sein. Die Kraft, Effizienz und kalte (unspontane) Logik der Maschinen, ist einerseits erschreckend, aber für einen unsicheren, vergesslichen und von Gefühlen oft überwältigten Menschen auch sehr anziehend.

Aber diese Denen und andere Denen, also alles Menschenmögliche: extreme und langweilige, steckt in Jedes von Uns, mal in Eines mehr das Denen, im Anderes mehr "das" Denen. Auch von diesem Mischmasch der Menschlichkeit, vom Reichtum an Blödheit und Klugheit, von Recht[s] und Link[s], von Oben und Unten, die In Jedes eingebaut ist, ohne Alles davon auszuleben und dem Aufruhr, den diese Erkenntnis erregt, handelt dieser Text. Heiner Müller ist klar, dass Mensch das Systemfolger genauso ist, wie das Systemveränderer, das Blockierendes, wie das Vorangehendes.

Was für eine Bandbreite!, was für ein Riesiko!, was für eine Verrücktheit!, birgt das Begreiffen dieser tiefen Selbst-Erkenntnis?

Den völligen Rückzug in die nur persönliche Haut? In den persönlichen Schleim, das persönliche Blut, die persönlichen Exkremente, wie Heiner Müller im Text andeutet? Nach dem Motto: Ich könnt kotzen, wenn ich das Alles mit-Kriege!

Ist die Flucht vor (in?) der Wirklichkeit, der Eskapismus, das Ausblenden, der auch persönlichen Vielfalt und Vielgestaltigkeit hilfreich? Ist es gesünder, wenn (Jedes) Mensch die anderen Menschen, die MitMenschen, als gleiche Spiegelbilder und (aber!) andersgeartete Ausprägungen der menschlichen Möglichkeiten, des persönlichen Selbst, einfach ausblendet, verdrängt, oder ist diese Selbst-Beschränktheit vielleicht doch kränkender?

Wie lange braucht die gesamte Menschheit noch, all die MitMenschen als gleichwertig, gleichwichtig und Diese und das jeweilige Selbst als (aber!) verschieden, als eine Facette der Möglichkeit "Mensch" anzuerkennen, ohne zu erschrecken?

All die Hatz und der Hass oder die Absonderung oder Gleichgültigkeit, die etwas völlig anderes als die Gleichwertigkeit ist, in und zwischen Uns.
Warum?

Vielleicht, weil k[aum]ein-Es bisher Selbst entscheidet, welche Facette -Es und auch, wann -Es diese Facette, die Möglichkeit Mensch zu sein, ausleben möchte, und dass wegen all der Vergangenheit und der Gesellschaftprägungen, den Herkunftsregionen, der Religionen, den Traditionen, den Familien-Verpflichtungen, - Zwänge wohin ein-Es fühlt und spürt, das Fremde in Uns -, ... aber das führt weit über den Text der HamletMaschine hinaus, oder auch dahinter, suchend nach der Ursache der Verstörung, des Zauderns und der Wut, die diesen Text antreibt.

Die Versuchung geht weiter ...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen